Politisches Nachtgebet - Archiv 2022
Die Veranstaltungsreihe "Politisches Nachtgebet" findet mehrmals im Jahr in unserer Kirche statt.
Politisches Nachtgebet vom 18.11.2022
Eine zukunftsgerechte Finanzpolitik
Gast: Peter Teichmann, Direktor am Sächsischen Rechnungshof
„Was schulden wir der Zukunft?“ Gedanken zu einer zukunftsgerechten Finanzpolitik wollte sich im Politischen Nachtgebet des Monats November Peter Teichmann machen. Er ist einer der Direktoren beim Sächsischen Rechnungshof und kennt sich bestens aus im Geflecht der Haushalte und Rücklagen von Freistaat, Städten, Kreisen und Gemeinden. So habe der Freistaat derzeit einen Haushalt von 21 Milliarden Euro, davon 14 Milliarden aus Steuereinnahmen, erklärte der Fachmann, die Haushalte der Kommunen beliefen sich auf 11 Milliarden. Hinzu kommen die Vermögen. Der Rechnungshof prüft, ob dieses Geld auch immer sinnvoll eingesetzt wird. „Überall, wo öffentliche Gelder drinstecken, muss eine Prüfung möglich sein“, sagte Teichmann - so zum Beispiel auch beim Landtag, den Fraktionen, dem MDR… Der Rechnungshof kann auf Missstände hinweisen, Verbesserungsvorschläge machen, hat aber keine rechtliche Möglichkeit, Maßnahmen durchzusetzen.
Während die Kommunen mit einem Sachvermögen im Wert von rund 36 Milliarden Euro recht gut dastehen, hat der Freistaat, obwohl er, wie Teichmann lobend erwähnte, in den letzten Jahren Schulden abgebaut habe, „mehr Schulden als Sachvermögen“ - einer der Gründe seien die Pensionsverpflichtungen und Hilfen im Krankheitsfall für seine Beamten. Angespart seien 8,7 Milliarden, der Bedarf werde sich auf 16 bis 18 Milliarden Euro belaufen. (Dennoch plädierte Teichmann eindeutig für das Beamtentum - der Staat könne nicht verzichten auf loyale, unabhängige handelnde Mitarbeiter.) Aber um die Lücke zu schließen, müsse angespart werden.
Auch seien viele Aufgaben, die die öffentliche Hand anbiete, nicht „verursachergerecht finanziert“, heißt: nicht kostendeckend - zum Beispiel die Krippen- und Kita-Versorgung, Bibliotheken. Es gebe zwei Möglichkeiten - mehr einnehmen, also die Beiträge erhöhen, oder einsparen, also „die Standards prüfen“, eventuell das Angebot verringern. Beides wenig erfreuliche Alternativen. Umso mehr plädierte Teichmann dafür, dass man Entscheidungen über Finanzen und den Einsatz von Geldern „demokratisch, transparent und nachhaltig“ treffen müsse. Frage: Was wollen wir erreichen, wo wollen wir hin? „Ganz wichtig: Man muss die Menschen mitnehmen.“ Und es brauche eine Erfolgskontrolle.
Zudem findet Finanzplanung unter geänderten Rahmenbedingungen statt - etwa der demografische Wandel, die Folgen des Klimawandels. Neue Schulden dürften nur noch aufgenommen werden, wenn es einen realistischen Tilgungsplan gebe. Und überhaupt müssten sächsische Kommunen sich erstmal Klarheit über ihr Vermögen und ihre Haushaltslage verschaffen. Viele kämen schon länger mit ihren Jahresabschlüssen nicht hinterher. Zur Frage nach der Zukunft kommen also ganz offensichtlich auch solche nach einer soliden Finanzpolitik für die Gegenwart und die Aufarbeitung finanzieller Altlasten aus der Vergangenheit. Mit der Lösung müsse man „am besten schon heute beginnen“.
Musikalisch begleitet wurde der Abend wieder von unserem Organisten Peter Setzmann, der mit dem Zukunftstraum „Somewhere over the Rainbow“ den Schlusspunkt setzte. Eingeleitet hatte Pfarrer Gabriel Beyer den Abend mit einer Reihe von Bibelstellen, in denen es um Geld, um Zins und Abgaben geht. Sein Fazit: „Wenn Dir jemand von seinem Geld gibt, hast Du verantwortungsvoll damit umzugehen - das gilt auch für den Staat.“ Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 14.10.2022
„Frieden schaffen mit mehr Waffen? - Die Friedensarbeit der evangelischen Kirche und der Krieg in der Ukraine“
Gast: Michael Zimmermann, Beauftragter der sächsischen Landeskirche für Friedens- und Versöhnungsarbeit
Zu diesem Thema war der Beauftragte der sächsischen Landeskirche für Friedens- und Versöhnungsarbeit Michael Zimmermann in unserer Kirche zu Gast.
In seinen einleitenden Worten wies Pfarrer Beyer darauf hin, dass in der christlichen Botschaft der Frieden mit Gerechtigkeit verbunden ist, dass Jesus einen Frieden zusagt, der mehr als irdischer Frieden ist, uns aber auch auffordert, dem Bösen zu widerstehen. Das sollte uns nicht nur bewegen, wenn ein Konflikt, wie in der Ukraine, uns sehr nahegeht, wenn unsere Freiheit und unser Wohlstand bedroht werden.
Hier schloss Michael Zimmermann in seinem Vortrag unmittelbar an, indem er an die vielen gegenwärtigen Kriege und Konflikte in der Welt erinnerte, an die wir uns gewöhnt haben, an tote Flüchtlinge im Mittelmeer und an den EU-Außengrenzen und an jene, die an Folgen von Kriegen verhungern oder vertrieben werden.
Aber auch in unserem Land, in unserer Gesellschaft habe der gegenwärtige Krieg in der Ukraine deutliche Spuren hinterlassen. Es erschrecke ihn, wie eine Militarisierung des Denkens um sich greift, wie in einer Hau-Ruck-Aktion ein milliardenschweres Aufrüstungsprogramm ohne eine gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion beschlossen wurde, Rüstungskontrollgesetze relativiert werden, der Einsatz von Kampfdrohnen akzeptabel erscheine und die atomare Abschreckungsdoktrin wieder hoffähig wird.
Er erinnerte an den Beschluss der Ev. Bundessynode von 1987, die eine Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung durch Massenvernichtungswaffen beschloss.
Ähnliche Erklärungen und Beschlüsse zu Gerechtigkeit und Frieden haben der Ökumenische Rat der Kirchen, die EKD und die Synode der sächsischen Landeskirche in der Vergangenheit mehrfach wiederholt.
Zuletzt hat auch die im September in Karlsruhe tagende Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen zu diesem Krieg Stellung genommen und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf verurteilt.
Bei der aktuellen Krise, ist die Haltung der Kirchen aber oft weniger eindeutig. Die Konferenz der Kirchenleitungen der EKD betonte am 24. März 2022 das Recht auf Selbstverteidigung der Ukraine gegen den russischen Aggressor, warnte aber vor einem Hass auf Russen.
Der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Bischof Kramer, sagte einschränkend: „Ich halte die Waffenlieferungen durch unser Land weiterhin für falsch“.
Und der ev. Militärbischof forderte, die Kirche müsse ihre Haltung der Realität anpassen.
Um unsere Realität ging es Zimmermann im zweiten Teil seiner Ausführungen. Es gehe um Menschen, um ihre Leiden, um ihr Leben, das dürfe in einer politisch und ideologisch aufgeladenen, von Schuldzuweisungen belasteten Reaktion auf diesen Krieg nicht vergessen werden. Es gehe aber auch darum, was dieser Krieg mit uns macht, um unsere Friedensfähigkeit, um die Erkenntnis, dass Frieden nicht durch Waffen erreicht wird, um die Einübung von Gewaltfreiheit, auch in der Sprache. Wir könnten diese aber nicht von den Betroffenen einfordern. Diese Dilemmata müssten wir aushalten und miteinander reden, nicht gegeneinander und das nicht in der Kriegsrhetorik.
Kritisch und in den Meinungen gespalten war dann auch die Diskussion, die das bekannte Meinungsspektrum widerspiegelte: von einer kategorischen Ablehnung von Waffenlieferungen und einer historischen Schuldzuweisung an die NATO bis zur vehementen Befürwortung auch einer bewaffneten Unterstützung der Ukraine und zur Rechtfertigung atomarer Abschreckung angesichts dieser völkerrechtswidrigen Aggression. So blieb am Ende die Frage offen: Wie viel Wirkung nach außen hat die Kirche in Friedensfragen?
Politisches Nachtgebet vom 16.9.2022
„…bitte wenden“: Prof. Udo Becker und Dr. Jürgen Bönninger beim Politischen Nachtgebet
Zwei Männer, die sich beruflich mit dem Autoverkehr beschäftigen. Einer mit Autos und Umwelt, der andere mit Autos und Technik. Beide von der TU Dresden. Und beide waren im September bei uns zum Politischen Nachtgebet in der Kirche. Thema: „Verkehr in der Sackgasse - bitte wenden“. Und obwohl der Verkehrsökologe Prof. Udo Becker und der Diplomingenieur Dr. h.c Jürgen Bönninger aus ganz verschiedenen Richtungen sich dem Thema Verkehr widmen, bei einem waren sie sich einig: Eine Verkehrswende muss und wird kommen, und sie wird tiefgreifend sein.
Klar sei, dass es ein vollkommenes Umdenken geben müsse. „Ein Weiter-so kann es nicht geben“, sagte etwa Udo Becker. „Immer größere Autos, immer mehr Technik, immer mehr Verbrauch von immer teurerem Kraftstoff, immer auf der Suche nach einem Parkplatz.“ Sein Ziel: „Weniger Verkehr, aber mehr Mobilität für die Menschen.“ Derzeit würden die Autos immer schwerer - „auch ein E-Auto ist nichts für die Stadt, wenn es zweieinhalb Tonnen wiegt“ -, und es würden immer noch mehr Autobahnen gebaut. Alles Irrwege…
Jürgen Bönninger und seine Studenten haben Lösungen für Beckers Vorstellungen bereits in der Tasche - und Prototypen schon gebaut. Deutlich kleinere Fahrzeuge, kleine Kabinenroller zum Beispiel, in denen sich zwei Menschen gegenübersitzen, gerade mal einen Meter breit. Sie fahren automatisiert (den Begriff „autonomes Fahren“ lehnt er ab: „Das wird es niemals geben.“), mehrere Module können aneinandergekoppelt werden, natürlich gibt es auch größere für mehr als zwei Personen. Ziel ist eine viel engere Verknüpfung von Individual- und öffentlichem Nahverkehr. Natürlich müsse jeder ein Fahrzeug haben dürfen, wenn er es wünsche - „aber die anderen Angebote müssen besser sein“.
Diese Wende werde „alles ändern“, sagen beide, aber „die Gesellschaft muss das wollen. Der Markt allein wird es nicht richten - da geht es nur um Gewinnmaximierung, nicht um ethische Ansprüche. Ihr müsst das nachfragen!“ Zunächst würden größere Fahrzeuge aus der Stadt verdrängt werden, ist Becker überzeugt. „Dann sind die Autobahnen dran.“ Ein Tempolimit werde es selbstverständlich geben - in der Bevölkerung sei laut Umfragen eine Mehrheit längst dafür. „Auch auf dem Lande müssten wieder Strukturen geschaffen werden, dass ein eigenes Auto nicht mehr gebraucht wird.“ Und man müsse sich kümmern um die individuelle Mobilität, z.B. älterer Menschen. Und die Städte umbauen zu mehr Fußgängerfreundlichkeit, mehr Radwegen.
Denn es gebe auch viel zu gewinnen, meinen beide: weniger Steuern, weniger Lärm, weniger Umweltbelastung und und und. „Die Wende ist kein Verzicht, und man muss auch keine Angst davor haben.“ In vielen Ländern gebe es bereits Lösungen, die auch für Deutschland Vorbild sein könnten. Denn dass sich das alles ändern werde, davon ist Becker überzeugt: „Die Debatte ist durch“, sagte er. „Die anderen wissen nur noch nicht, dass sie verloren haben.“
Unser Pfarrer Gabriel Beyer musste einräumen, als Vorlage für Verkehrsplanung gebe die Bibel nicht viel her. „Die Fortbewegungsmittel sind meistens die eigenen Füße, Esel oder Schiffe - und die kommen oft nicht an“, leitete er den Abend humorvoll ein. Peter Setzmann am Klavier hatte da mehr Auswahl. Zu Beginn ließ er Glenn Millers „Chattanooga Choo Choo“ heranrauschen, hier besser bekannt als „Sonderzug nach Pankow“. Zum Schluss gab es ganz umweltfreundlich „Ja, mir san mit’m Radel da“.
Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 16.8.22
Pavlo Cherkashyn im Politischen Nachtgebet: Der Krieg in der Ukraine
Warum war eigentlich der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew so unerwünscht? Und warum ist der Ukrainer Stepan Bandera so wichtig für die russische Kriegspropaganda? Es waren interessante Fragen, mit denen sich der junge Ukrainer Pavlo Cherkashyn im Politischen Nachtgebet im August beschäftigte. Zum Thema „Der Krieg in der Ukraine“ gab der Politologe und Völkerrechtler einen historischen Abriss der Landesgeschichte, die schon im 9. Jahrhundert mit der Kiewer Rus beginnt, und zur Lage in seiner Heimat.
Dort herrscht Krieg seit dem 24. Februar 2022. Eine der Begründungen für den Angriff ist in Putins Propaganda der Kampf gegen die Faschisten in der ukrainischen Regierung und im Land. Das wirkt immer in Russland: Faschisten gleich Nazis gleich heroischer Kampf wie im 2. Weltkrieg. Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera war und ist eine umstrittene Figur - während des 2. Weltkriegs versuchte er, einen ukrainischen Nationalstaat zu errichten, doch dafür ließ er sich mit den Nazis ein. Das ist lange her, passt aber in Putins Narrativ von den ukrainischen Faschisten.
Und Steinmeier - ihm schreiben die Ukrainer die Formulierung im Minsker Abkommen zu, dass die Regionen Donezk und Luhansk ein Vetorecht bekommen sollten gegenüber politischen Entscheidungen in Kiew. Das lehnte Kiew natürlich vehement schon damals ab.
Pavlo Chekashyn skizzierte die wechselvolle Geschichte des ukrainischen Volkes, räumte auf mit den russischen „Fake-News“, die Ukraine sei als Staat gescheitert, „vom Westen gesteuert und kontrolliert“, es sei überhaupt kein eigenständiger Staat und Ukrainisch nur ein russischer Dialekt, keine eigene Sprache. Er nannte durchaus Probleme in der Ukraine - Korruption, die Macht der Oligarchen, aber beschrieb auch, wie man dagegen angeht. Er verglich Demokratie, freie Wahlen, Rede-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit, Parlament und Opposition in der Ukraine mit Russland. „Die moderne Ukraine ist nicht gescheitert“, sagte er, „sie ist ein Scheitern für Russland.“
Er erinnerte, dass die Ukraine 1945 einer der Mitunterzeichner der Charta der Vereinten Nationen war. Er ordnete die ukrainische Sprache ein - slavisch, mit Übereinstimmungen mit belarussisch (84%), polnisch (70%), slovakisch (68%) und erst an vierter Stelle russisch (62%). Die Zahl der Bewohner mit Russisch als Muttersprache sei von 40% im Jahr 2012 auf 26% in 2021 und 18% in 2022 zurückgegangen - wobei „russisch sprechen“ nicht unbedingt auch „pro-russisch sein“ bedeuten müsse. Nebenbei erwähnte er, dass es sogar 1000 bis 1500 deutsche Worte im Ukrainischen gibt: Dach zum Beispiel, Papier, Farbe, Zucker, Kreide, Koma, Muschel…
Auf die entscheidende Frage des Abends, wie er denn die Zukunft seines Landes sehe, welchen Traum er habe, hatte auch Pavlo Cherkashyn keine Antwort. „Es gibt keine Verhandlungen zurzeit“, resümierte er. „Die Militäroperationen gehen auf beiden Seiten weiter. Die Russen wollen auf keinen Fall verlieren, die Ukrainer wollen ihr Land verteidigen.“ Er sah eine große Herausforderung im Winter - für die Ukraine und auch für Europa, wenn Energie und Gas knapp werden sollten, drohe eine humanitäre Katastrophe. „Wir müssen stark sein und stark bleiben und hoffen, dass es zu einem guten Ende kommt.“
Cherkashyn, der zurzeit in Dresden Zuflucht gefunden hat, hat Völkerrecht und internationale Beziehungen studiert in Kiew und Brügge, absolvierte Praktika im ukrainischen Außenministerium und beim EU-Parlament. Während der Wahlen in der Ukraine 2019 arbeite er als politischer Analyst für die OSZE, seitdem ist er Mitarbeiter der Vereinten Nationen im Kiewer Büro. Seine Vortrag hielt er in Englisch, gedolmetscht und, wo nötig, erläutert von der Juristin Carola Vulpius.
Als eines der Lieder für den Abend hatte Pfarrer Gabriel Beyer die Nummer 430 ausgewählt: „Gib Frieden, Herr, gib Frieden, die Welt nimmt schlimmen Lauf“. Musikalischer Begleiter des Abends war unser Organist Peter Setzmann am Flügel. Zum Auftakt spielte er die ukrainische Nationalhymne, und viele in der Kirche erhoben sich von den Plätzen, zum musikalischen Abschluss intonierte er dann „Die Gedanken sind frei“.
Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 08.07.2022
„Suchet der Stadt Bestes…“
Bürgermeister Stephan Kühn, Beigeordneter für Stadtentwicklung, Bau, Verkehr und Liegenschaften, sprach im Politischen Nachtgebet über die Konzepte für Dresdens Zukunft
Pfarrer Gabriel Beyer hatte beim Propheten Jeremia nachgeschlagen. „Suchet der Stadt Bestes“, heißt es da im 29. Kapitel, „(…) denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.“ Und auch wenn sich das damals natürlich nicht auf das Funktionieren moderner, großer Städte bezog, so beschreibt es doch sehr gut, was Dresdens Bürgermeister Stephan Kühn Anfang Juli im Politischen Nachtgebet vortrug.
Als Beigeordneter für Stadtentwicklung, Bau, Verkehr und Liegenschaften liegt es vor allem in seiner Hand, Zukunftskonzepte für die Stadt umzusetzen. Und in so weiter Ferne liegt diese Zukunft gar nicht - bis 2050 will Dresden klimaneutral sein, für 2035 schon fordert das die Initiative „DresdenZero“. Denn Klima, Energieversorgung, Bauen, Verkehr - das sind wichtige Parameter auf dem Weg zur Zukunftsstadt.
Drei Herausforderungen gebe es für die Stadt der Zukunft, sagte Kühn: „Sie muss grün sein, produktiv und gerecht.“ Das sind keine Gegensätze, sondern sie bedingen einander. Es geht um eine lebenswerte Stadt. Sie soll bezahlbares Wohnen in der Innenstadt ermöglichen - derzeit habe die Innenstadt den höchsten Wohnunsgleerstand, sagte Kühn, es sei einfach zu teuer. Man müsse dort Angebote für junge Menschen und Familien machen.
Ebenso sei der Handel im Wandel. Zehn Prozent der Geschäft in der Innenstadt stünden leer. „Aber wir wollen diejenigen, die produzieren, wieder in die Innenstadt holen.“ Es gehe um Vielfalt und Kleinteiligkeit. Insgesamt müsse man einen kreativen Raum schaffen aus Kultur, Freizeit, Wohnen, Arbeiten, Aufenthaltsqualität.
Dafür braucht es nach seiner Ansicht vor allem zwei Voraussetzungen - mehr Grün und eine andere Mobilität. Ganz wichtig - die „Überwärmung“ in der Innenstadt. Die Planer setzen auf Baumpflanzungen auf den Straßen und Plätzen, die Begrünung von Fassaden und Dächern (die inzwischen gern als „fünfte Fassade“ bezeichnet werden) und Innenhöfen. Seine Fachleute haben das untersucht - an öffentlichen Gebäuden ohne Fassadengrün wurden in der Sommerhitze Temperaturen bis 80 Grad gemessen - das muss im Innern alles wieder runtergekühlt werden.
Womit wir auch gleich bei der Energie wären - Photovoltaikanlagen am besten auf allen Dächern würden helfen, sowohl Wohn- wie Gewerbe- und öffentliche Gebäude. Kühn sah „ein Riesenpotenzial“. Auch Parkplätze könnten überdacht und mit Photovoltaik ausgerüstet werden, Neubauten sowieso. Und weg von Baustoffen mit schlechter Ökobilanz - Kühn: „Holz statt Beton“.
Viele Schritte auf dem Weg zur Klimaneutralität. Ein Pilotprojekt soll das neue Stadtquartier am Alten Leipziger Bahnhof werden. Stadtnah, 27 Hektar groß, da laufe ein städtebaulicher Wettbewerb, sagte Kühn. Ein Modell für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung mit dem Ziel, einen klimaneutralen Stadtteil zu schaffen.
Dazu kann (und muss) auch die Mobilität aus seiner Sicht einen großen Beitrag leisten. Derzeit würden in Dresden noch 36 Prozent aller Wege mit dem Auto erledigt, das soll auf unter 25 Prozent gesenkt werden. Deswegen will die Stadt Alternativen schaffen. Mit den Verkehrsbetrieben werden zunehmend MOBIpunkte eingerichtet - einer entstand gerade an der DVB-Haltestelle Plattleite, als Kühn seinen Vortrag in unserer Kirche hielt.
An diesen Mobilitätszentren werden Alternativen zum Wechseln angeboten. Carsharing, Bike-Sharing, Umstieg von einem auf andere Verkehrsmittel, Bus und Bahn. „Nutzen statt besitzen“, warb Kühn, der selbst auch kein Auto hat. Außerdem richtet die Stadt erste „Radvorrangrouten“ ein, auf denen Radfahrer schnell und sicher unterwegs sein sollen. Wichtig sei, aber auch, betonte er, Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmern zu vermeiden. „Wir brauchen eine bessere Mobilitätskultur.“
Die Stadt unterliege einem starken Wandel, sagte der Bürgermeister. „Sie braucht Antworten.“ Und er beschwor ihre „transformatorische Kraft - in den Städten werden auch die Lösungen entwickelt.“ Dresden ist da offenbar mit vielen Ideen dabei, doch Kühn räumte auch ein: „Klimaneutral bis 2050… - bei der Umsetzung hapert es noch.“
Musikalisch - und da haperte es ganz und gar nicht - wurde der Abend begleitet von Anett Ziller, Geige, und Christiane Tzschacksch, Cello, mit Stücken von Bach und dem zeitgenössischen Komponisten Kjell Marcussen aus Norwegen.
Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 08.04.2022
Zurück zur Natur
Der bekannte Autor und Umweltschützer Ernst Paul Dörfler sprach beim „Politischen Nachtgebet“.
Eine Rückbesinnung als Weg in die Zukunft, als einziger Weg mit Aussicht auf eine langfristige Perspektive - das ist die Überzeugung von Ernst Paul Dörfler. Der Bestsellerautor war zu Gast beim „Politischen Nachtgebet“ am 8. April in unserer Kirche auf dem Weißen Hirsch. Die Rückbesinnung gilt der Natur, dem Leben auf dem Lande. „Die Natur ist unser wichtigstes Kapital“, sagte Dörfler an jenem Abend. „Es geht darum, sie wieder wertzuschätzen, sie ist uns fremd geworden. Und es geht darum, die ländlichen Räume wieder wahrzunehmen.“
Sein aktuelles Buch heißt deshalb auch „Aufs Land“. Aber schon 1983 zu DDR-Zeiten zog der studierte Chemiker sich aus seinem Beruf zurück, erinnerte sich seiner Kindheit, aufgewachsen auf einem Bauernhof, und schrieb mit seiner Frau zusammen das Buch „Zurück zur Natur“ - ignoriert von den öffentlichen DDR-Medien, aber Kultbuch für die ostdeutsche Umweltschutz-Bewegung.
Die Thesen sind bis heute dieselben geblieben - und angesichts der drohenden Klimazerstörung aktueller denn je: mehr Natur, weniger Chemie, mehr Selbstversorgung, weniger Wirtschaftswachstum um jeden Preis, ökologische Landwirtschaft statt industriell hochgezüchteter, und Preise, die fair sind: „Preise, die die Wahrheit sagen“ - zum Beispiel Energie- und Transportkosten. Dann werde es sich auch wieder lohnen, regional zu produzieren. Und Bio-Produkte dürften nicht teurer sein als „chemische Nahrung“.
„Was macht die Natur mit uns?“, fragte Dörfler in die Runde. „Die biologische Vielfalt ernährt uns, Natur entspannt, sie hält fit und gesund, sie sättigt uns, macht schlau, macht reich… in einem Wort: Sie macht uns glücklich.“ Und die Selbstversorgung? „Es ist die kürzeste Lieferkette der Welt“, beschrieb Dörfler. „ Sie schont Ressourcen, spart Energie, es gibt keinen Abfall, keine Transportwege, stattdessen körperliche Arbeit, soziale Kontakte.“ Und er sehe, dass dieses System wieder neu entdeckt wird.
Aber Dörfler ist nicht Öko-Romantiker, er ist Wissenschaftler. Und so verbindet er in seinen Büchern und Vorträgen „eigene Lebenserfahrung und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse“. Als er 1990 als Mitgründer von Bündnis 90/Grüne in die Politik ging, hatte er zwei Ziele - Förderung der erneuerbaren Energien, weg von Atomkraft und fossilen Brennstoffen; und Energieeinsparung. Politisch sei er damals „grandios gescheitert“, also wollte er es privat schaffen: „Ich zeige, dass es geht. Es ist außerordentlich befriedigend, überhaupt kein Verzicht, sondern ein Gewinn an Freiheit, Geld und Lebensqualität.“
Das Problem des Klimawandels ist seit langem bekannt. Inzwischen weiß man, der Handlungsbedarf ist groß, viel Zeit wurde vertan. Das Problem seien die Reichen, sagte Dörfler. „Zehn Prozent Reiche in der Welt verursachen 52 Prozent der Treibhausemissionen - und die meisten Deutschen zählen dazu.“ Was kann man tun? Solaranlagen müssen auf die Dächer - die Technik und Speichermöglichkeiten werden immer besser. Windenergie - gerade gibt es viel Streit um die Gefahren für Vögel, doch laut Dörfler zeigen neueste Studien, dass das viele Ursachen hat, „Windräder liegen da unter ferner liefen“. Die industrielle Landwirtschaft muss umgestellt werden, Flüsse sind zu renaturieren, Wälder müssen den Klimaveränderungen angepasst werden, Seen gereinigt, Moore wieder in Feuchtgebiete zurückverwandelt werden - kurz: „Es gilt, das Ökosystem wieder zu reparieren“ - das sei auch eine Forderung der UNO für die 2020er Jahre. „Wir haben keine Alternative, um unser Überleben zu sichern“, kommentierte Dörfler.
„Freuet euch der schönen Erde, denn sie ist wohl wert der Freud’“ - das Lied 510 aus dem Gesangbuch hatte Pfarrer Gabriel Beyer eingangs mit den Besuchern angestimmt, begleitet von unserem Organisten Peter Setzmann am Flügel. Wie jeder dazu beitragen kann und wie sehr alle dazu beitragen müssen - das war das Thema des Abends mit Ernst Paul Dörfler. Der setzt auch Hoffnung in die neue Bundesregierung - oder jedenfalls Teile davon. Man müsse Regeln setzen, Rahmenbedingungen schaffen, auch mit Steuern - „für Obst und Gemüse runter, für Fleisch hoch“; zum Beispiel. Wer einfach sage „keine Steuererhöhungen - der will nicht steuern; und wer nicht steuert, fährt gegen die Wand“.
Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 25. März
Krieg und Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie
Ministerpräsident Michael Kretschmer stand Rede und Antwort beim „Politischen Nachtgebet“.
Ein Zitat aus der Verfassung des Freistaats Sachsens war eigentlich das Thema an diesem 25. März, doch zum Auftakt des Abends mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) beim „Politischen Nachtgebet“ spielte Peter Setzmann am Flügel in unserer Kirche die ukrainische Nationalhymne.
Man musste auch über den Krieg sprechen. Seit dem 24. Februar tobt der russische Angriff furchtbar in dem Land mitten in Europa. „Ein Krieg, der durch wirklich nichts zu rechtfertigen ist“, machte Kretschmer deutlich. „Er ist ein großes Verbrechen am Völkerrecht; und es ist klar, wer hier der Täter ist.“ Es gehe um Freiheit und Demokratie, die Souveränität eines Volkes, selbst über seine Zukunft zu entscheiden. „Das sind universelle Werte“, sagte Kretschmer „Sie sind nicht selbstverständlich, sie müssen verteidigt werden.“
Um universelle Werte ging es auch vor 30 Jahren, als die sächsische Verfassung entstand. „…von dem Willen geleitet, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung zu dienen…“, heißt es in der Präambel. Das war eigentlich das Thema, zu dem der Ministerpräsident ursprünglich im November eingeladen worden war. Wegen Corona verschoben, traf er nun auf ein weites Feld zwischen Realpolitik, Umweltschutz, Gerechtigkeit, Krieg und Frieden.
Es sei unbedingt wichtig, dass auch Deutschland der Ukraine hilft, so gut es kann, betonte Kretschmer. Aber es gebe auch Grenzen der Hilfe. Deutschland, die Nato dürften nicht selbst Kriegsparteien werden, so schwer diese Zurückhaltung auch sein möge. „Eine Krise kann nicht die andere verdrängen“, mahnte Kretschmer. Und es werde eine Zeit nach dem Krieg geben, da werde man auch wieder mit Russland sprechen müssen. „Russland ist eine Supermacht direkt in unserer Nähe“, sagte er. „Auch nach Putin wird es keine Demokratie sein, aber wir müssen mit diesem unberechenbaren Nachbarn umgehen.“
Auf Augenhöhe gehe das aber nur aus einer Position eigener politischer und wirtschaftlicher Stärke heraus. Derzeit ist Deutschland stark von den Importen von Kohle, Erdgas und Öl aus Russland abhängig. Die Preise sind immens gestiegen, das belastet Wirtschaft und Verbraucher; es drohen Lieferengpässe, weiter steigende Preise, eventuell ein Embargo. In einer solchen Situation strikt die Klimaziele weiterzuverfolgen und den Umstieg auf erneuerbare Energien, dabei Wirtschaftskraft und soziale Sicherheit im Blick zu behalten…
Natürlich sei er dafür, Alternativen zum Erdgas zu haben, statt es aus Russland zu beziehen, Windkraftanlagen schneller zu bauen, stärker auf Solarenergie zu setzen. Man sei auch in der CDU für vieles bereit, aber man müsse „Radikalität vorbeugen; wir müssen über Details reden, über das Wie, über das Machbare“. In diesem Punkt gab es später Widerspruch von einigen Vertretern von „Fridays for Future“ und von Klaus Gaber, ehemals grüner Umweltbürgermeister in Dresden. Es sei schwer, ein System grundlegend zu ändern, aber man brauche einen Paradigmenwechsel, betonten sie, und müsse das Ganze nicht vom Jetzt, sondern„vom Ziel her denken“. Kretschmer hatte unter anderem angemerkt, man müsse eventuell auch eine längere Laufzeit der noch verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke - immerhin seien sie wenigstens CO2-neutral - erwägen. „Man muss über Kompromisse nachdenken“, fand Kretschmer. „In irgendeinen sauren Apfel müssen wir beißen.“ Das müsse „klar und deutlich kommuniziert werden, ein gewisses Maß an Ehrlichkeit gehört einfach dazu“.
An die Friedensbewegung in der DDR und ihr Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ erinnerte eine Besucherin kritisch angesichts der Ankündigung des Bundeskanzlers, 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr bereitzustellen. Das sei „sehr irritierend“. Kretschmer verteidigte das Geld für die Bundeswehr. Zum einen decke es auch einen lange entstandenen Nachholbedarf ab, zum anderen: „Nur wenn du selber stark bist, kannst du dich auch verteidigen.“ Und schließlich sei die Bundesrepublik, anders als die DDR es war, ein demokratischer Staat - „hier entscheidet das Parlament über Kriegseinsätze, und das sind immer furchtbare Entscheidungen“.
Die Demokratie muss verteidigt werden, auch im eigenen Land - das steht für Kretschmer fest. Und da sieht er Defizite, wie er auf eine Frage aus dem Publikum ausführte. „Wir brauchen viel mehr Menschen, die sich für die Demokratie interessieren und die dafür einstehen“, sagte er und warb für mehr Engagement in Initiativen, Verbänden, Organisationen, politischen Parteien. „Die Demokratie braucht den mündig und bewusst entscheidenden, wissenden Bürger.“ Und verwies auf ein mahnendes Beispiel aus der Geschichte: „Die Weimarer Republik ist nicht an zu wenig Demokratie gescheitert - die Leute haben sich nicht dafür interessiert.“
In unsere Kirche hatte der Abend mit dem Ministerpräsidenten jedenfalls eine Menge Besucher gelockt. Zum Auftakt verwies Pfarrer Gabriel Beyer auf die großen Herausforderungen, die gerade jetzt und für die Zukunft auf der Politik lasten - mit Blick auf die Umwelt, die Gesellschaft, aber auch den Krieg. „Die Welt ist in einem schlimmen Zustand“, sagte er. „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und wissen, wir müssen das anders machen. Und dann nun die Kriegssituation, die das alles noch schwieriger, noch schlimmer macht.“
Als Christ könne man zwar sagen: „Der Glaube ist stärker als die Angst, die Liebe beseitigt letztendlich den Krieg. Und wir können auf Gott vertrauen, dass wir das nicht alles aus uns heraus selbst schaffen müssen.“ Doch ein politisch verantwortlicher Mensch könne sich schlecht allein auf „die Rechtfertigung aus Gnade berufen, angesichts eines Krieges oder der Zerstörung unser aller Lebensgrundlage“.
Musikalische Hoffnung und Mahnung zugleich kam noch von Peter Setzmann. Er spielte das weltbekannte versöhnliche Louis-Armstrong-Lied „What a wonderful world“ - und da geht es im Text nicht nur um blühende Blumen und grüne Bäume, sondern auch um Freunde, die sich die Hand reichen.
Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 11. Februar, 19.30 Uhr
Dr. Herbert Lappe sprach im „Politischen Nachtgebet“ darüber, deutsch zu sein und jüdisch zu sein.
„Wir sind alle nackt geboren“
Die Frage kam spät, aber sie kam. Dr. Herbert Lappe, lange Jahre im Vorstand der jüdischen Gemeinde in Dresden und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, hatte seinen Vortrag in der Reihe „Politisches Nachtgebet“ in unserer Kirche schon beendet, Fragen aus dem Publikum hatten begonnen. Da fragte es einer: „Wie ist das eigentlich - jüdisch sein und deutsch sein?“
Ein Gegensatz? Nicht für den Referenten. „Mein Lieblingsthema“, entfuhr es ihm. Und er hatte eine frappierend einfache Antwort: „Für uns in der Familie war das nie eine Frage, dass wir Deutsche sind, und nie eine Frage, dass wir jüdisch sind.“ Geboren 1946 im Exil in London, kehrte er mit seinen Eltern schon 1949 wieder nach Dresden zurück, wuchs hier auf. „Unsere Familie ist nicht religiös“, sagt er. Und widmete das Thema des Abends etwas um - nicht, „warum ich Jude bin“, sondern „wie ich lernte, dass ich Jude bin“.
Die Beschneidung am achten Tag - kein Wunder, dass er davon nichts mehr weiß. Auch an seine Bar Mizwa, die Aufnahme in die religiöse Volljährigkeit, habe er kaum Erinnerungen. Aber es gab Geschichten. Zum Fasching als Kind wollte er - wie viele seiner Freunde - als Kreuzritter gehen. Die Mutter riet ab: „Die waren nicht gerade gut zu uns.“ Er wollte gern Mitglied im Kreuzchor werden - die Eltern zweifelten, ob die ein jüdisches Kind nähmen. Es gab große jüdische Feiertage - Chanukka, Jom Kippur, Pessach, da hatte er schulfrei, da ging es in die Synagoge. „So lernte ich allmählich, dass ich Jude bin.“
Von den großen jüdischen Festen sei ihm das Pessach-Fest das liebste, erzählte Lappe. Die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, den Marsch durch die Wüste Negev, es ist das Ende der Sklaverei, der Weg zur Befreiung. „Pessach - das ist der Gedanke an die Freiheit.“ Es ist ein großes Familienfest, das sorgfältig vorbereitet wird, das Haus gründlich gereinigt, das Brot (Mazze) ungesäuert, der Pessach-Tisch mit bestimmten Speisen gedeckt.
Wie man feiert, und wie man als Jude lebt, hängt durchaus davon ab, wie religiös man geprägt ist. Herbert Lappe hat in seiner weitläufigen Familie in aller Welt Beispiele für ganz weltliche, religiöse und orthodoxe Juden. „Aber für uns interessiert das überhaupt nicht untereinander - man fragt nicht, das ist Privatsache.“
Man erfuhr viel über das jüdische Leben an diesem Abend und die Lappe-Familie. Ein Großvater war Vorsitzender der jüdischen Gemeinde ein Chemnitz, ein Onkel schmuggelte Waffen gegen die englischen Besatzer im frühen Israel, ein anderer wurde später der erste israelische Konsul in Westdeutschland, sein Vater war Professor für Elektrotechnik an der TU Dresden, seine Lehrbücher wurden auch in der BRD empfohlen, später wurde er auch Ehrendoktor in Chemnitz.
Wie sich denn das Judentum definiere, wollte jemand aus dem Publikum wissen. „Als Religion, als Nationalität, als Volk?“ Eine Einteilung, mit der ein Jude nicht unbedingt etwas anfangen kann - es sei eine typisch deutsche Frage, meinte Herbert Lappe. „Wir Deutschen sind bestrebt, alles genau zu machen, wollen ein Ordnungsprinzip.“
Bis ins 19. Jahrhundert seien die Juden in Deutschland Fremde gewesen, Ausländer, danach waren sie juristisch gleichberechtigt, referierte Lappe - in Preußen etwa seit 1813, in Sachsen seit 1866. „Viele haben gar nicht gewusst, dass sie Juden sind, das haben erst die Nazis ihnen klargemacht.“ Die Juden wurden zur „Rasse“. Die schrecklichen Folgen sind bekannt. Hätte es Israel damals schon gegeben, hätten viele Verwandte überlebt, sagte Lappe.
Doch die Zeit heute sei eine andere. „Wir sind Nachkriegsgeneration“, betonte er. Und letzten Endes „sind wir alle nackt geboren und verantwortlich für unsere eigenen Taten“. Zu DDR-Zeiten habe Israel aus politischen Gründen „immer eine eher negative Rolle gespielt“, erinnerte Lappe, auf die Frage nach Antisemitismus in der DDR konnte er jedoch berichten. „Ich hatte niemals antisemitische Erlebnisse - bis heute.“ Da machen andere Menschen - und keineswegs nur hier im Osten oder auch nur hier in Deutschland - leider wieder zunehmend ganz andere Erfahrungen.
Zum Verhältnis zwischen Deutschen und Juden hatte sich zu Beginn des Abends auch Pfarrer Gabriel Beyer seine Gedanken gemacht. Es sei „schwer belastet und Anlass zur Scham“. Seine Hoffnung sei, dass „trotz dieser unendlichen Schuld es irgendwann einmal ein normales sein wird“. Dafür hatte Herbert Lappe zum Schluss einen praktischen Hinweis. Er wünsche sich sehr, dass wir einfach miteinander leben, sagte er: „Nehmen Sie uns Juden, wie wir sind.“ Dazu passte auch die Melodie, mit der unser Organist Peter Setzmann den Abend beschloss. Er hatte ihn zwischendurch mit jüdischen Weisen begleitet, am Ende gab es das unverwüstliche „Hava nagila“, und das bedeutet: „Lasst uns glücklich sein.“
Bernd Hempelmann
Politisches Nachtgebet vom 21. Januar, 19.30 Uhr
In der Reihe „Politisches Nachtgebet“ sprach Dr. Gerd Lippold aus dem Umweltministerium zum Thema „Wie wird Sachsen klimaneutral?“
Vom „Schurkenstaat“ zum ‚Musterland“?
Das war starker Tobak: „Sachsen war jahrelang ein klimapolitischer ,Schurkenstaat’ in der Bundesrepublik“, sagte Dr. Gerd Lippold in seinem Vortrag zu der Frage: „Wie wird Sachsen klimaneutral?“. Trotz des Zusammenbruchs der Wirtschaft nach der Wende habe der CO2-Ausstoß in Sachsen 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt gelegen. Aus naheliegenden Gründen habe man sich so lange wie möglich gegen das Ende des Braunkohleabbaus gestemmt. Anders als etwa Sachsen-Anhalt und Brandenburg, die frühzeitig auf alternative Energien - Solar, Wind - gesetzt hätten, habe Sachsen, „um die Braunkohle zu stützen, lange Jahre nichts gemacht“.
Lippold ist Staatssekretär im sächsischen Ministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft - ein Ministerium, das es in dieser Kombination erst seit dem Koalitionsvertrag nach der Wahl 2019 gibt. „Das war ein Paradigmenwechsel“, sagt der promovierte Physiker, der nach langen Jahren Arbeit in der Wirtschaft für Bündnis 90/Grüne im Landtag saß, bis er ins Ministerium wechselte.
Es sei ein „zähes Unterfangen“, die klimapolitische Wende durchzusetzen. Die hochentwickelten Industrienationen sind da seiner Meinung nach besonders gefordert. „Wir hier, die wir das Wissen und die Technologie haben, müssen zeigen, dass es geht.“ Denn dieselben Staaten hätten das auch verursacht: „Die Atmosphäre bis an ihre Grenze zu belasten.“ Die, die jetzt nachkämen, sagten natürlich, wir haben dasselbe Recht, unsere Industrie zu entwickeln.
Ja, aber möglichst nicht mit denselben Fehlern. Klimapolitik, sagte Lippold, sei eine nationale, eine internationale Großaufgabe. „Ach, wir hier in Sachsen“, sei oft das Argument, „wir retten doch nicht die Welt; und dafür sollen wir unsere Wirtschaft ruinieren?“ Das sei zu kurz gesprungen, argumentierte Lippold. Zum einen müsse - eingebunden in ein großes europäisches Versorgungsnetz - „jeder seinen Beitrag leisten, sein Potenzial nutzen“. Zum anderen sei die Energiewende unerlässlich, wenn wir Industriestandort bleiben wollen“. Die Lieferketten müssten CO2-neutral sein, das sei mittlerweile ein ganz großer Standortvorteil.
In der Regierung, auch in der Staatskanzlei sei das allen klar. „Aber vor Ort ist das schwierig, in den Wahlkreisen.“ Nehme man zum Beispiel die Windkraft - „die ist als Konfliktpotenzial für interessierte Kräfte ideal, um Druck zu machen, zu verzögern, zu verschleppen“. Da droht dann der nächste Wahltermin. „Aber“, sagte Lippold, „Klimapolitik muss über eine ganze Reihe von Wahlperioden durchgehalten werden. Sonst sind wir verloren.“ Das Ziel „Null-CO2-Emission“ solle bis 2045 erreicht werden, nur noch gut 20 Jahre ab jetzt. „Wir müssen Gewaltiges vollbringen. Aber das heißt, wir müssen jetzt anfangen, nicht erst 2040.“
Obwohl die Gefahren bekannt seien - weltweit -, habe man zu lange gewartet und sei nicht schnell genug unterwegs. „Die jungen Menschen freitags auf der Straße sind zurecht ungeduldig.“ Aber dieser Druck habe auch zu einem Umdenken in der Politik geführt. Analysen nach der Landtagswahl 2019 zeigten, was junge Leute wählen. In einer ersten Schülerklimakonferenz in Sachsen wurde 2019 „ein großes, dickes Pflichtenheft“ für den Ministerpräsidenten übergeben - im Juni 2022 soll der Konferenz Bericht erstattet werden. Und es werde zurzeit in allen Bereichen der Landesregierung ein Maßnahmenprotokoll entwickelt - z.B. sollen ab 2023 alle Standorte sauberen Strom haben.
Das ist irgendwann auch eine finanzielle Frage. „Wind und Sonne stellen keine Rechnungen“, sagte Lippold und mahnte „Kostenehrlichkeit“ an. „Fossile Energieträger sind endlich. Der CO2-Preis wird weiter steigen. Ressourcen kosten Geld, endliche Ressourcen kosten immer mehr Geld - sie werden teurer, je knapper sie werden. Und Nuklearenergie ist immer teurer geworden.“ Kein deutsches Unternehmen, das noch Kernkraftwerke habe, wolle eine Laufzeitverlängerung.
Länder, die auf Kernkraftwerke setzten, seien überwiegend ohnehin auch politisch-militärisch „Nuklearmächte, die in diesem Club bleiben möchten“, oder Länder, die „in diesen Club möchten; sie sind wenig demokratisch geprägt“. Zivile Atomenergie sei heute wegen des gigantisch gewachsenen technischen Aufwands, der Sicherheit, der Folgekosten eine der teuersten Energieerzeugungen. „Bei den alternativen Energien ist es umgekehrt.“
Die zukünftigen Energiekosten sind laut Lippold auch ein Feld der Sozialpolitik. „Energiewende, Klimaschutz, Artenschutz, das kostet alles Geld und wird die, die sich das nicht leisten können, härter treffen.“ Es bringe aber nichts, für niedrige Preise, etwa billiges Fleisch zu sorgen - „man muss die unterstützen, die diese Preise nicht zahlen können“. Es gehe nicht ohne sozialen Ausgleich.
Was kann, was muss aber Sachsen tun? Der Freistaat baue keine einzige Anlage, das machten die Investoren, erinnerte Lippold. „Aber wir müssen dazu die Rahmenbedingungen schaffen.“ Nur extrem scharf gesetzte Ziele hätten Erfolg. „Hätten wir uns nur in der Kunst des Machbaren versucht, wäre bis heute nichts erreicht.“ Sachsen habe verstanden und werde nicht einfach zu denen gehören, die ihren Beitrag leisten, sondern sogar besser dastehen als andere Bundesländer. Vom „Schurkenstaat“ zum „Musterland“.
Musikalisch begleitet wurde der Abend von Philharmonie-Cellist Rainer Promnitz, der mit einer bretonischen, einer japanischen und einer nordischen Weise für besinnliche Momente sorgte. Einleitend hatte unser Pfarrer Gabriel Beyer die bekannte Stelle aus dem 1. Buch Mose zitiert: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan.“ Angesichts der Lage heute merkte er an: „Da haben wir wohl etwas missverstanden.“ Zum Schluss gab es ein gemeinsames Gebet. Pfarrer Beyer rief die Nummer 831 aus dem Evangelischen Gesangbuch auf: „Schöpfer des Alls!“ - eine gute, eine passende Wahl. Schlagen Sie es mal nach.
Bernd Hempelmann