Politisches Nachtgebet
Die Veranstaltungsreihe "Politisches Nachtgebet" findet mehrmals im Jahr in unserer Kirche statt. Hier finden Sie die Berichte zu den Veranstaltungen im aktuellen Kalenderjahr.
Ältere Veranstaltungen sind hier archiviert: 2023 2022
Für unsere Rechte und unsere Freiheit
Juliane Hundert, sächsische Datenschutzbeauftragte, sprach beim Politischen Nachtgebet im September
Schlag nach im Lukas-Evangelium: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde“, zitierte Juliane Hundert, Juristin und sächsische Datenschutz- und Transparenzbeauftragte, die bekannte Stelle aus der Weihnachtsgeschichte, um zu belegen: „Das Erfassen von personenbezogenen Daten war für den Staat schon immer wichtig.“ Ihre Aufgabe ist es dabei, dafür zu sorgen, dass der Bürger geschützt wird vor dem unberechtigten Sammeln von Daten, vor dem Missbrauch gesammelter Daten. Denn Datenschutz schütze unsere Rechte und unsere Freiheit.
Wenn man nicht mehr weiß, was über einen selbst bekannt ist, wenn man Sorge haben muss, dass man möglicherweise „im Visier“ ist, dann könne das ein Verhalten ändern, verunsichern, ängstlich, aggressiv machen. „Wir fühlen uns unfrei, bedroht, überwacht, ziehen uns zurück, nehmen unsere Grundrechte nicht mehr wahr.“ Deswegen unterliegt das Datensammeln und -verarbeiten durch öffentliche Stellen strengen gesetzlichen Regeln. Und der Bürger hat ein recht darauf zu wissen, was der Staat über ihn weiß: Transparenz - auch dafür ist Juliane Hundert mit ihrer Behörde zuständig. An die kann man sich auch wenden: 1000 Beschwerden, berichtete die Juristin, habe es allein 2023 gegeben, außerdem 600 Beratungsanfragen, 200 Bußgeldverfahren seien in den letzten Jahren ausgelöst worden.
Man sieht - das Interesse und der Bedarf sind da. Dabei sind es nicht nur öffentlichen Stellen, gerade auch private Unternehmen sammeln Daten - Google, Apple, Meta (mit WhatsApp, Facebook und mehr), Tiktok, Instagram… Sie sind in der Lage, aus den Unmengen von Daten Persönlichkeitsprofile herzustellen und verdienen Geld nicht nur mit Werbung, sondern auch, indem sie solche Daten auswerten und anderen zur Verfügung stellen, nicht zuletzt für politische Einflussnahme. Auch das soll, muss kontrolliert werden - es ist jedoch bei diesen global agierenden Konzernen ein schwieriges Unterfangen.
Deshalb riet Hundert auch zur Vorsicht bei „Cookies“ - sobald man eine Internetseite aufruft, wird man aufgefordert, sie zu akzeptieren - damit erlaubt man dem Unternehmen, Daten von Computer, Tablet, Handy zu sammeln. Also besser nur die funktionellen akzeptieren oder ganz ablehnen; aber selbst dann sei man nicht sicher, ob dem Gerät nicht doch ein Cookie eingepflanzt worden sei…
In der anschließenden Diskussion wurde gefordert, dass es ein Schulfach Medienkompetenz geben müsse, um junge Leute auf die digitale Welt vorzubereiten. (Wobei auch Ältere da durchaus Nachhilfe gebrauchen können.) Und Juliane Hundert sagte, dass man auch an seinen eigenen Endgeräten Datenschutzeinstellungen habe. „Prüfen Sie die. Und bleiben Sie wach, treten Sie für Ihre Rechte ein - mich wissen Sie dabei an Ihrer Seite.“
Pfarrer Beyer war für seine Begrüßung in der Bibel ebenfalls fündig geworden auf der Suche nach dem Datenschutz. So erinnerte er an das 10. Gebot. „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat“ - und bezog dann auch die Daten ein. Oder im 2. Buch Mose, als Gott nicht seinen Namen nennt. „Gott will sich nicht verfügbar machen“, deutete Pfarrer Beyer. „Wer meinen Namen kennt, der hat ein Stück Macht über mich.“ Deswegen gebe es den Datenschutz - er schütze nicht die Daten um ihrer selbst willen, sondern es gehe darum, „dass der Mensch in Freiheit und ohne Sorge um seine Person leben kann“.
Peter Setzmann intonierte am Flügel den Jazz-Klassiker „Take five“ und das Stück „Midwinter“ des britischen Komponisten Bob Chilcott. Es sei „so fabelhaft bewegend“, begründete er. Und gönnte sich mit dem Karat-Hit über die „sieben Brücken“ einen kleinen Seitenhieb auf die Carolabrücke, die zwei Wochen zuvor teilweise eingestürzt war.
Bernd Hempelmann, Foto: Karla Tolksdorf-Hempelmann
Empört Euch – welche Grenzen hat Empörung?
Podiumsdiskussion mit Maria Kunze und Christian Bläul, Aktivisten der „Letzen Generation“
Es waren zwei sympathische und sensible Menschen, Maria Kunze und Christian Bläul, die so gar nicht den mit den Aktionen und Aktivisten der „Letzen Generation“ verbundenen Klischees entsprachen. Am 23. August erlebten die zahlreichen Besucherinnen und Besucher des Politischen Nachtgebets ein sehr nachdenkliches Gespräch zum Thema: Empört Euch – welche Grenzen hat Empörung? Das Interview mit den beiden Podiumsgästen führte Pfarrer Beyer. Die anschließende Diskussion mit dem Publikum war lebhaft, engagiert und fair.
In seinen einleitenden Worten stellte Pfarrer Beyer den biblischen Bezug zum Thema her. Die Aktionen alttestamentarischer Propheten waren oft nicht weniger „anstößig“ als die der heutigen „Klimakleber“, wenn das Volk Gottes vom rechten Weg abwich.
Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Auch heute gibt es Situationen, die empörend sind und Protest erfordern. Die Bedrohung der menschlichen Existenz durch die Klimakatastrophe ist offensichtlich. Das Zeitfenster für Maßnahmen, sie noch abzuwenden, schließt sich nach Aussage der Wissenschaft in wenigen Jahren. Wir sind die letzte Generation, die noch Schlimmeres verhindern kann. Dem widersprach niemand an diesem Abend.
Es war deshalb nicht verwunderlich, dass es bei der Bewertung der Motive der „Letzten Generation“ keinen großen Dissens gab. Es sei verständlich, legitim und erforderlich, dass junge Menschen – und nicht nur diese, denn wir alle gehören zu dieser letzten Generation – sehr sensibel in einer solchen Situation reagieren. Es geht um ihre, um unsere Zukunft. Verständlich seien auch die Enttäuschungen, die Empörung und Verzweiflung darüber, dass angesichts wissenschaftlich belegter Fakten und technisch und gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten zu wenig getan wird, um die Klimakatastrophe noch abzuwenden. Weil die bisherigen Proteste keine grundlegenden Veränderungen bewirkt haben, greift die Gruppe „Letzte Generation“ zu ungewöhnlichen und Aufsehen erregenden Protestformen, die Christian Bläul bis ins Gefängnis geführt haben.
In der Diskussion gab es kritische Fragen und Bewertungen zu der Art der Proteste, denn diese stellten die Rechtsordnung in Frage. Die mediale Wirkung solcher Aktionen sei kontraproduktiv, da sie sich gegen Menschen richteten und diese dagegen aufbrächten. Damit würden sie dem eigentlichen Anliegen schaden. Auch sei in einigen Fällen (z.B. die Beschädigung von Bildern in Galerien) der ursächliche Zusammenhang mit den kritisierten Zuständen nicht zu erkennen.
Es war beeindruckend, dass die beiden Podiumsgäste eine solche Kritik als durchaus berechtigt ansahen und jetzt über andere Protestformen nachdenken. Und es sprach für sie und ihren moralischen Anspruch, dass sie auch bereit waren, die strafrechtlichen Konsequenzen für ihre Rechtsverstöße als legitim hinzunehmen.
Dieser Abend hat für uns alle neue Denkanstöße gebracht und - bei durchaus unterschiedlicher Wertung der Aktionen der „Letzen Generation“ - Respekt und Sympathie für diese engagierten jungen Menschen erzeugt. Dankbar wurde zudem die einfühlsame Musik von Herrn Setzmann empfunden, die dem Abend einen schönen Rahmen gab.
Klaus Gaber, Foto: Anke Gaber
KI - lebensdienlich oder lebensbedrohlich?
Martin Kutz von der TU Dresden sprach beim Politischen Nachtgebet im Juni über Künstliche Intelligenz
Ist die Künstliche Intelligenz (KI) die „vierte Kränkung der Menschen“? Aus theologischer Sicht: Nach Kopernikus (die Erde ist nicht das Zentrum des Universums), nach Darwin (der Mensch stammt vom Affen ab), nach Freud (das Ich ist nicht der Herr im Haus) nun die KI (Roboter können alles besser als der Mensch selbst)? Kann die KI also Gott ähnlich sein oder werden? Martin Kutz forscht zur KI an der TU Dresden, er hat Elektrotechnik und Theologie studiert, er sprach beim Politischen Nachtgebet im Juni über „Künstliche Intelligenz und ihre gesellschaftliche Relevanz“ und schloss mit Betrachtungen zu KI und Kirche.
Es war Zufall, aber am selben Tag hatte Papst Franziskus beim G7-Gipfel in Italien ebenfalls über KI gesprochen - er nannte es „ein faszinierendes, aber unheimliches Instrument“. Schon vorher hatte er zu dem Thema Stellung bezogen: Er hoffe, „dass der Fortschritt bei der Entwicklung von Formen künstlicher Intelligenz letztlich der Sache der menschlichen Geschwisterlichkeit und des Friedens dient“. Und prägte den Begriff der „Algorethik“, die ethische Entwicklung von Algorithmen. Dem hätte sich wohl jeder der Anwesenden im Kirchenraum angeschlossen. Aber so einfach ist es nicht.
Martin Kutz widmete sich zunächst einem Abriss der Entwicklung der KI. Um 1930 habe die Forschung an solchen Systemen begonnen, 1943 entdeckte man aus der Gehirnforschung den Aufbau neuronaler Netze (die selbst lernen können), 1956 wurde erstmals der Begriff „Künstliche Intelligenz“ verwendet. In kurzer Zeit habe es sehr große Weiterentwicklungen auf dem Gebiet gegeben, allgemein bekannt wurde das Thema spätestens seit ChatGPT - ein Werkzeug, das aus einem ungeheuren Datenvolumen, das ihm zur Verfügung steht, zum Beispiel selbsttätig Texte erstellt, Antworten gibt, auch komplexe Themen zusammenfasst und erklärt, Vorschläge liefert.
Die KI-Anwendungen machen auch (noch) Fehler, manchmal gänzlich fantasierte Angaben, entwickeln sich aber rasend schnell weiter - je weniger zu erkennen ist, dass es sich um KI handelt, desto größer ist auch die Gefahr von Missbrauch: Fake News, Deep Fake, Desinformation, Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen, politische Prozesse, Demokratien.
„Künstliche Intelligenz braucht menschliche Intelligenz“, sagte Kutz in seinem Vortrag. Ob das immer so sein werde, da hatte auch er keine Antwort. Es gibt aber Forscher, die prognostizieren, das schon zum Ende dieses Jahrhunderts die KI sich selbst reproduzieren könne. Auf jeden Fall sei die KI eine „disruptive Technologie“ - sie betreffe alle Lebensbereiche. Beispiele? Die Kunst - ungeklärt ist die Frage nach der Urheberschaft, wenn KI ein Kunstwerk herstellt. Das Militär - wer übernimmt die Verantwortung, wenn Menschen durch autonome Waffensysteme getötet werden? Die Bildung - Unterstützung für Lehrkräfte bei der automatisierten Bewertung von Arbeiten ist möglich, aber sollen Maschinen auch die Erziehung übernehmen, und wenn ja, nach welchen Kriterien? Die Arbeitswelt - einst ersetzten Maschinen manuelle Arbeit, jetzt ersetzen Maschinen auch kognitive Arbeit.
Ist die KI „eine lebensdienliche Technik, die sich in eine lebensbedrohliche wandelt“? KI zwiespältig zu sehen, hat durchaus seine Berechtigung. Kutz hatte noch ein ganz simples Beispiel: „KI kann helfen, dem Klimawandel entgegenzuwirken“, sagte er, „ist aber selbst sehr ressourcenintensiv - Energie, Wasser für die Kühlung (andererseits lasse sich die Abwärme wiederum nutzen), Verbrauch von Materialien, seltenen Erden, …“ Auf jeden Fall brauche es Regeln und Kenntnisse, um mit KI umzugehen. „Einfache Medienkompetenz reicht da nicht.“
Und schließlich die Kirche und das Menschliche. Es gibt schon Versuche mit Künstlicher Intelligenz und „sozialer Robotik“, die eingesetzt wird etwa in Altersheimen, in der Demenz-Pflege, auch für Gespräche über die Bibel und Gott, für das Gebet, den Segen. Ein Thema, an dem Martin Kutz intensiv arbeitet - er hatte deshalb zu Robotern, KI und Kirche einen Fragebogen dabei und bat die Besucher, ihn auszufüllen. Die Frage, ob die KI in der Seelsorge einsetzbar sei, beantwortete er mit einem Augenzwinkern - eigentlich ja: Sie sei sehr geduldig, urteile nicht, sei stets verfügbar, sozusagen der ideale Pfarrer („Entschuldigung, Herr Beyer, ich will Ihnen nicht zu nahe treten“).
Pfarrer Beyer nahm es mit Humor. Schon zu Beginn hatte er bekannt: „Ich habe meine Schwierigkeiten mit der Künstlichen Intelligenz.“ Der Mensch habe neben der sinnlichen Wahrnehmung auch Intuition, eine Art von Gefühl. „Haben Maschinen ein Verständnis im tieferen Sinne?“, fragte er. Kreativ sein, Phantasie und Einfühlung zeigen, Neues schaffen, schöpferisch werden, das könne nur der Mensch. Und verwies auf Peter Setzmann am Flügel: „Da nennt man das dann Künstler.“ Und in der Tat hatte Peter Setzmann mit einer eindringlichen Improvisation den Abend besonders eingeleitet. Das empfand auch Martin Kutz: Die Musik, sagte er, habe „eine Gebrochenheit, Licht und Schatten, die schon auf unser Thema hindeuten.“
Bernd Hempelmann / Foto: Karla Tolksdorf-Hempelmann
Das „Projekt Europa“ - nicht nur Wirtschaft, sondern auch Werte
Die sächsische Justizministerin Katja Meier sprach kurz vor der Europawahl beim Politischen Nachtgebet im Mai
Der Termin war mit Bedacht gewählt. Es war wenige Tage vor der Europawahl, als die in Sachsen zuständige Ministerin Katja Meier (Grüne) Ende Mai zum Politischen Nachtgebet in unsere Kirche kam. Eigentlich Staatsministerin der Justiz, umfasst ihr Arbeitsgebiet ausdrücklich auch Demokratie, Europa und Gleichstellung. Themen, die durchaus einen inneren Zusammenhang haben - und Ministerin Meier widmete sich engagiert der Frage: In welchem Europa wollen wir leben?
Dabei stellte sie gleich klar: Europa ist mehr als nur ein Fördermittelgeber mit hoch bürokratisiertem (und deswegen oft kritisiertem) Apparat. So sehen Europa viele - von dem Geld aus europäischen Förderfonds habe Sachsen immerhin sehr profitiert. Dass Sachsen heute für seine Innovationskraft bekannt sei, habe auch damit zu tun. Und die Gelder aus Europa machten Sachsen noch dazu zukunftsfähig. Aber es ist nicht das Europa der Wirtschaft, sondern noch ein weiteres, das „Projekt Europa“, wie sie es mehrfach nannte: das Europa der Werte, ein Friedensprojekt, offene Grenzen, ein Europa der Vielfalt.
Wenige Tage zuvor hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron vor Tausenden von vielen, gerade auch jungen Menschen auf dem Neumarkt gesprochen. Ein flammendes Plädoyer. „Europa ist nicht Ziel, es ist Kompass“, zitierte ihn die Ministerin. Viele Errungenschaften in der EU seien keineswegs so selbstverständlich, wie sie heute hingenommen werden. Gerade vor dem Hintergrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine müsse man ohnehin „vorsichtig sein, was Selbstverständlichkeiten angeht“. Es brauche eine wehrhafte Demokratie. „Vermeintliche Selbstverständlichkeiten“ würden nur überdauern, „wenn wir uns anti-europäischen Tendenzen entgegenstellen“.
Europa stehe vor großen Herausforderungen, räumte Ministerin Meier ein. „Es gibt viel zu tun“, aber „es ist unerhört wichtig, dieses Projekt Europa - und wir können das gemeinsam bewerkstelligen“. Die Sachsen seien seit der Osterweiterung der EU „aufgrund ihrer Mittellage geradezu prädestiniert dazu“, Mittler für Begegnungen zu sein. Für Europa zu werben, Erfahrungen zu teilen. Es sei „dringend erforderlich, Begeisterung für das Projekt Europa zu schaffen“. Gefahren sah sie unter anderem im zunehmenden Nationalismus in vielen Staaten. Mit Einschränkungen für Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaat und Demokratie - lobend zu erwähnen sei Polen, das es in demokratischer Wahl geschafft habe, diese Entwicklung wieder umzukehren; ein Zeichen der Hoffnung.
Geopolitisch habe Europa nur gemeinsam eine Chance, fügte unser Pfarrer Gabriel Beyer am Ende noch hinzu: „Wenn wir ernst genommen werden wollen, dann müssen wir uns auch selbst ernst nehmen als Europa.“ Ansonsten war er in Sangeslaune an diesem regnerischen Abend. „Wir singen uns das Wetter schön“, sagte er und ließ „Wie lieblich ist der Maien“ anstimmen. Später ging es noch um Gottes Willen als Grundlage für all unser Tun (Lied 497 im Gesangbuch) und zum Abschied um eine gesegnete Nachtruhe (Lied 489: „Gehe ein in Deinen Frieden, schlafe einen guten Schlaf…“ ). Auf solche guten Wünsche stimmte Peter Setzmann am Flügel für Europa ein mit der „Eurovision-Hymne“ (eigentlich das Te Deum von Marc-Antoine Charpentier) und dem allseits vertrauten Volkslied „Die Gedanken sind frei“.
Bernd Hempelmann / Foto: Karla Tolksdorf-Hempelmann
Erfolg der Populisten - Krise der Demokratie?
Der Soziologe Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg beim Politischen Nachtgebet im April
Ein Erstarken des Populismus wird allgemein beobachtet - in vielen Staaten der Welt und in Deutschland auch. Die Auswirkungen werden oft beklagt, zunehmend gefürchtet. Ist er „das süße Gift der einfachen Wahrheiten“ in einer immer komplizierteren Welt? Der Soziologe Dr. Karl-Siegbert Rehberg, lange Jahre Professor an der TU, mittlerweile emeritiert, versuchte darauf eine Antwort beim Politischen Nachtgebet in unserer Kirche im April und kam zu vielschichtigen Erklärungen.
Wo Menschen mit ihrer persönlichen Lage unzufrieden sind, das Vertrauen verloren haben in Politik und Institutionen, haben Populisten leichtes Spiel. Sie schüren Ängste in einer ohnehin verunsicherten Gesellschaft: „Da werden negativ aufgeheizte Gefühlslagen durch Faktenmissachtung angefacht.“ Das habe auch zu tun mit einer zunehmenden Neoliberalisierung - die Schere zwischen arm und reich wird größer. Gerade den Osten Deutschlands habe nach der Wende diese Polarisierung, verbunden mit massiver Privatisierung, besonders getroffen: „Bei der Wende war die Hoffnung, dass sich vieles verbessern würde, ein zentraler Punkt.“ Stattdessen: Modernisierungskrise, verbunden mit einer Sinnkrise, mittlerweile auch mit einer politischen Krise, Krieg, Migration und Flüchtlingsströme - das sei ein „schockhafter Zusammenhang, der vieles erklärt“. Rehberg sparte auch nicht mit Kritik am Agieren der aktuellen Bundesregierung.
Und er warnte vor der AfD, die er - nicht zuletzt durch die Positionen und Äußerungen einer zentralen Figur wie Björn Höcke - als höchst problematisch und rechtsradikal sieht. Dennoch halte er es für falsch, sie pauschal als „Nazis“ zu bezeichnen. Er wolle keineswegs „die AfD schonen, denn sie ist schlimm genug“, aber er fürchte den „Verlust der Vorstellung davon, was das Nazi-Regime und seine mörderischen Praktiken betrifft - von der Auslösung des Zweiten Weltkrieges bis zur Shoah“.
Einen Beitrag zum Popularismus leisten mit ihrer Möglichkeit zur extremen Verrohung auch die (un)sozialen Medien, die zwar dazu beigetragen haben, dass die Welt heute so vernetzt ist wie nie zuvor, die Utopie einer „Weltgesellschaft“ aber habe sich daraus nicht entwickelt. Man müsse eine sachliche Auseinandersetzung immer wieder versuchen - allerdings durchaus mit dem Dilemma, wie viel Toleranz man dem Intoleranten entgegenbringen könne. Wichtig sei eine wehrhafte Demokratie. Ihren Schutz könne man nicht allein den Institutionen überlassen: „Es braucht eine starke Zivilgesellschaft.“ Eine „schweigende Mehrheit“ sei kein Garant für Stabilität, sie könne auch zerstörerisch sein. Trotz aller Gefahren - eine Ende der Demokratie sehe er nicht, sagte Rehberg, sie müsse als Staatssystem aber immer verteidigt werden.
Manch einer im Publikum hatte etwas anderes erwartet von diesem Abend - mehr Antworten auf die Frage, was gegen die Anfälligkeit für und den Populismus selbst zu tun sei. Prof. Rehberg hatte das offenbar geahnt und sagte, er hoffe, er habe niemanden enttäuscht, aber sein Anliegen sei es gewesen, vornehmlich die Zusammenhänge aufzuzeigen.
Am Flügel begleitete an diesem Abend Hans-Christoph Werneburg das Nachtgebet. Der „Frühling“ aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ und am Ende die „Sehnsucht nach dem Frühling“, Musik von Mozart (und besser bekannt als „Komm, lieber Mai, und mache…“), gesungen von Anett Ziller, setzten Hoffnungszeichen. Sie hatte vorher auf der Geige den Beatles-Klassiker „Yesterday“ gespielt, begleitet wiederum von Christoph Werneburg, der auch noch das besinnliche „La Rêveuse“ von Marais eingestreut hatte.
Pfarrer Gabriel Beyer resümierte im Schlussgebet, dass die eine Wirklichkeit mittlerweile in viele zerfällt, dass viele überfordert sind in einer immer komplexer werdenden Welt, und dass wir Gott anrufen können in der Hoffnung auf „Dein Reich, in dem alle Widersprüche aufgehoben sind“.
Bernd Hempelmann / Foto: Karla: Tolksdorf-Hempelmann
„Auf der Suche nach Gerechtigkeit“
Superintendent Christian Behr und Silke Pohl beim Politischen Nachtgebet im März
„Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unserer Zeit“ - mit dem Lied 263 aus dem Gesangbuch stimmten Pfarrer Gabriel Beyer und die Besucher sich ein auf einen vielschichtigen Abend beim Politischen Nachtgebet im März. „Wie im Himmel, so auf Erden?“ fragten Christian Behr, Superintendent Dresden-Mitte, und Silke Pohl vom Ökumenischen Informationszentrum und machten sich auf die „Suche nach Gerechtigkeit“.
Keine einfache Aufgabe, denn „aus welcher Richtung wollen wir uns der Gerechtigkeit nähern?“, fragte Superintendent Behr: „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt? Gerechtigkeit zwischen den Menschen?“ Und er sprach an, was viele bewegt: die Gerechtigkeit - was fordert sie von uns, was bringt sie uns? Meistens gehe es ohnehin um fehlende Gerechtigkeit. Dabei sei sie - neben Klugheit, Tapferkeit und Maßhaltung - eine der vier Kardinaltugenden. Ist Gerechtigkeit vor Gott also zu erreichen durch gute Taten? Oder durch den Glauben allein, wie Luther es beschrieben hat? Und definiert man die Gerechtigkeit zwischen Menschen nach Leistung oder Bedarf oder ganz anders - eine Frage, die schon im Gleichnis der Arbeiter im Weinberg gestellt worden sei (wo alle am Ende denselben Tageslohn bekommen, obwohl sie unterschiedlich lange gearbeitet haben).
Für Behr gehören drei Dinge immer zusammen: Gerechtigkeit, Friede, die Bewahrung der Schöpfung. Das sollen wir erstreben auf Erden. „Wie im Himmel“ - dieser Teil des Abendmottos inspirierte Peter Setzmann für die musikalische Begleitung am Flügel. Zum Auftakt spielte er ein Stück aus dem gleichnamigen Musikfilm, zwischendurch sanft Jazziges mit „Night and Day“ sowie „My Blue heaven“, zum Ausklang „Der Mond ist aufgegangen“. Da gestattete sich Pfarrer Beyer sogar einen kleinen Scherz: es sei doch „höchst ungerecht, dass Herr Setzmann so viel besser Klavier spielt als ich“.
Eine Brücke zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit hatte zuvor Silke Pohl geschlagen, die sich im Ökumenischen Zentrum mit Fragen der Gerechtigkeit beschäftigt. Seit dem 18. Jahrhundert habe die Ungleichheit in den - jedenfalls europäischen - Gesellschaften abgenommen, nach 1918 sei sie wieder gestiegen: der Reichtum konzentriere sich auf immer weniger Menschen. Aber das war nur ein Aspekt ihrer Überlegungen zur Gerechtigkeit. Sie erläuterte ein Modell aus „vier Arenen, die Gerechtigkeitsfragen behandeln“: die Oben-Unten-Arena - dort werde die ökonomische Verteilung von Geld und Macht diskutiert (und ja, dazu gehörten auch Streiks - sie könnten „eine Möglichkeit sein, zu einer Umverteilung, einer gerechteren Verteilung des Reichtums zu kommen“); die Innen-Außen-Arena - dort gehe es um Migration und die - mittlerweile hart geführte - Diskussion, wer darf kommen, wer bekommt Unterstützung; die Wir-Sie-Arena - dort gehe es um Rassismus und Geschlechtergerechtigkeit; die Heute-Morgen-Arena - die Klimapolitik, auch dort „geht es sehr emotional zur Sache“. Die letzte Arena unterscheide sich von den anderen, weil sie sich nicht allein auf Konflikte in der Gegenwart, sondern auch auf die Zukunft beziehe.
In allen Arenen gebe es den Ruf, die Rufe nach Gerechtigkeit, fasste Silke Pohl zusammen. „Aber wollen wir sie hören?“ Oder solle alles bleiben, wie es ist oder „wieder so, wie es früher (oder niemals) war“? Die demokratische Gesellschaft war ihre Hoffnung - sie habe „die Möglichkeit, solche Themen zu verhandeln und zu Ergebnissen zu kommen.“ Wichtig sei dabei, auch international, einander zuzuhören. Das betreffe gerade auch den Christenmenschen - „den Ruf nach Gerechtigkeit zu hören und damit auch den nach mehr Menschlichkeit“. Oder - wie Superintendent Behr den Propheten Amos zitierte - dass „die Gerechtigkeit ströme wie ein nie versiegender Bach“.
Bernd Hempelmann, Foto: Karla Tolksdorf-Hempelmann
Vom Wissen zum Tun - wie wir die Welt retten
Annika Schmid und Christian Bärisch beim Politischen Nachtgebet im Februar
Es ging um eine der großen Fragen - manche sagen: DIE große Frage - der Gegenwart beim Politischen Nachtgebet im Februar: den Klimawandel. Wir wissen doch eigentlich viel darüber - Erderwärmung und ihre Gefahren, der Einfluss des Menschen, Extremwetterlagen, Umweltkatastrophen, Hungersnöte, zu viel Hitze und Überschwemmungen, dabei Trockenheit, Waldbrände, unbewohnbar werdende Gebiete… Das alles wissen wir - aber: Warum fällt es vielen so schwer, sich mit dem eigenen Handeln darauf einzustellen?
Die Psychologin Annika Schmid und der Soziologe Christian Bärisch vom Verein „Zukunftsgestalten e.V.“ beschäftigen sich mit dieser Frage. „Vom Wissen zum Tun - wie wir die Welt retten“ war ihr Thema an jenem Februar-Abend in unserer Kirche. Wenn wir wissen, was zu tun wäre, es aber trotzdem nicht machen, dann fühlt sich das nicht gut an. „Wir kommen in einen unangenehmen Spannungszustand“, erklärte die Psychologin: „die kognitive Dissonanz“. Das hat Gründe. Das ganze Klima-Thema ist einem viel zu kompliziert, Menschen, die man kennt, haben vielleicht ganz andere Ansichten, mit ihnen will man nicht brechen, man will sich nicht der Kritik aussetzen von Leuten, die das alles anders sehen, man hat schon so viel investiert, dass es schwer ist umzukehren und gegenzusteuern. Andererseits stehe man „fassungslos vor der Tatsache, dass wir die Lebensgrundlage unserer und zukünftiger Generationen aufs Spiel setzen“.
Um da einen Weg herauszufinden, muss man stark sein. Der Soziologe stellte die Frage. „Wer sind denn wir?“ Auf welcher Ebene wollen wir gemeinsam etwas tun? Man kann sich organisieren - in Parteien, Vereinen, Verbänden, in Initiativen, mit Freunden und Familie. Aber man muss auch ganz bewusst bei sich selbst anfangen. Klar - die ersten Schritte sind immer die schwersten, aber - so die Erfahrung von Schmid und Bärisch - man fängt klein an, auf lokaler Ebene, und macht die Erfahrung, dass man aus einer Gruppe Gleichgesinnter ungeheuer viel Energie mitnehmen kann, dass man anfangen kann, Druck aufzubauen, auch auf die Politik, denn „die Politik muss die Rahmenbedingungen setzen“. Also: „Gleichgesinnte suchen und loslegen“. Dazu gehört auch, den Austausch zwischen Gruppen zu stärken.
Christian Bärisch machte auf besondere Weise Mut: „Wir können von uns mehr verlangen. Wir bleiben unter unseren Möglichkeiten, gerade was Dialog und Überzeugung betrifft.“ Denn was hat der Mensch am Ende davon, dass er etwas tut: „Wir kommen dazu, eigene Entscheidungen zu treffen. Das ist der Benefit. Wir kommen dazu zu erfahren, was Freiheit ist.“ Man war versucht, an Erich Kästner zu denken: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Pfarrer Beyer erinnerte in seiner Begrüßung an die - zum Scheitern verurteilten - Versuche, sich allein durch gute Werke bei Gott ein Guthaben erwerben zu wollen. Was schon Paulus anprangerte. Luther betonte darum den Vorrang des Glaubens: Nicht gute Werke machen den Menschen gut, sondern ein guter, also gläubiger Mensch vollbringt gute Werke. Als Gläubiger tue ich gute Werke, weil sie richtig sind und ich helfen will, nicht, um bei Gott besser dazustehen.
Peter Setzmann saß wieder am Flügel und begleitete den Abend mit ABBA („Andante, Andante“), Richard Rogers („Blue Moon“) und Louis Armstrong („Wonderful world“). Ein Abend übrigens, der wie ein Workshop begann: „Warum sind Sie hier?“, wollten die Referenten von den Besuchern wissen. Die einen interessierte der wissenschaftliche Ansatz des Abends, andere der psychologische, manche gaben zu, sie fühlten sich einfach ohnmächtig angesichts der vielen Krisen, man erhoffte Ansätze, wie man „Menschen in ihrer Blase“ mit Argumenten näher komme. Die Motive waren vielfältig, einer brachte es auf den Punkt: „Das Politische Nachtgebet hat immer interessante Themen.“
Bernd Hempelmann
Diskussionsabend zum Thema „Die Ostdeutschen und die Demokratie“
Bericht zum Politischen Nachtgebet am 2. Februar 2024
Im Politischen Nachtgebet am 12. Januar zum Thema “Die ostdeutschen und die Demokratie“ war die Diskussion zu kurz gekommen. Sie wurde am 2. Februar im Gemeindesaal nachgeholt. Das Interesse war groß. Zu Beginn fassten die Referenten der vorherigen Veranstaltung ihre Kernaussagen zusammen. Roland Löffler, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, nannte die reale wirtschaftliche und soziale Situation in Ostdeutschland gut im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Jedoch fehlten die Zentralen der DAX-Unternehmen im Osten. Die Bevölkerung in Ostdeutschland schätzt die Demokratie, sei aber unzufrieden mit deren Umsetzung. Das Vertrauen in die politischen Institutionen und Parteien sei drastisch gesunken. Demografische und soziale Probleme wie die Überalterung, die Abwanderung von Leistungsträgern und strukturelle und soziale Ungleichheit zwischen den Ballungsräumen und den ländlichen Räumen verstärkten die Unzufriedenheit. Auch Erfahrungen und Prägung in der DDR könnten bei Älteren ein Grund dafür sein. Anfälligkeit gegenüber Populismus sei jedoch kein spezifisch ostdeutsches Phänomen, das gäbe es in ganz Europa. Sein Appell: Politische Gestaltungsmöglichkeiten nutzen und die demokratischen Parteien stärken.
Michael Bartsch, freier Journalist und aufgewachsen in Ostdeutschland, benannte die hiesige Mentalität: „Alles muss anders werden, aber bleiben wie es war.“ Nazistische und neodarwinistische Anschauungen seien nie ganz ausgestorben und bildeten einen Nährboden für Rechtsextremismus. Der Hang, einfache Lösungen für komplexen Probleme zu suchen und Vorgaben von oben zu erwarten, begünstigten populistische und rechtsextremistische Positionen. Dies sei dann kaum durch Fakten zu beeinflussen. Die eigentlichen Probleme würden damit überdeckt. Seine Empfehlung: Nicht in den Chor der Panikmacher einstimmen, in der Krise auch die Chance sehen, Bündnisse „von unten“ zu schließen, zu versuchen, rechtsextremistisch beeinflusste Menschen emotional zu erreichen.
In der anschließenden lebhaften Diskussion, von Rechtsanwalt Wolfgang Kau souverän moderiert, wurde ein breites Spektrum von Gründen, Befürchtungen und Hoffnungen geäußert. Ursachen für das Erstarken populistischer und rechtsextremer Kräfte seien der Verlust an Vertrauen in die politischen Institutionen und in die Medien, eine unzureichende und widersprüchliche Vermittlung politischer Entscheidungen „von oben nach unten“, das Versagen politischer Bildung an den Schulen und die Angst vor krisenbedingten Veränderungen der Lebensumstände. Es gäbe eine große Nervosität und Unsicherheit in Krisenzeiten. Die Auflösung bisher relativ stabiler sozialer Schichtungen, der Wandel von einer geschlossenen in eine offene Gesellschaft verursachten eine wachsende Orientierungslosigkeit. Die bürgerliche Mitte, bisher der stabile Anker der Gesellschaft, verlöre ihren sicheren Wertekanon durch das Einsickern des rechtsextremistischen Gifts auch mittels einer verrohten Sprache. Ein entsprechendes Denken werde salonfähig.
In der Diskussion wurden Ansätze genannt, um solche Krisenerscheinungen zu bewältigen bzw. Lösungen möglich zu machen. Die Politik müsse ehrlich Probleme und Herausforderungen benennen. Kompromisse und das Austarieren von Interessen seien keine Schwäche, sondern ein Wesensmerkmal der Demokratie. Das müsse positiv kommuniziert werden. Es fehle Gelassenheit und Vertrauen in die repräsentative Demokratie. Die Medien sollten dazu beitragen. Hass und Populismus müssten energisch entgegengetreten werden. Das Wort der ostdeutschen Bischöfe, rechtsextremistisches Denkens, wie es von der AfD vertreten wird, sei mit dem Christentum nicht vereinbar, markiere eine rote Linie. Diese Brandmauer gelte der Ideologie, nicht aber den Menschen. Mit Andersdenkenden müsse man im Dialog bleiben. Empathie, Optimismus, Ehrlichkeit seien überzeugender als Hass und Hetze.
Die Resonanz auf diesen Abend war positiv. Es gab die Anregung, die Diskussion in einem ähnlichen Format fortzusetzen.
Anke und Klaus Gaber
Die Ostdeutschen und die Demokratie
Ein Thema, zwei Referenten und ein volles Haus
Dr. Roland Löffler und Michael Bartsch beim Politischen Nachtgebet im Januar zu „Die Ostdeutschen und die Demokratie“ - und eine Fortsetzung am 2. Februar
So viele Besucher hatte unsere Kirche bei einem Politischen Nachtgebet noch nicht oft, vielleicht noch nie gesehen, als Dr. Roland Löffler, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, und der Journalist Michael Bartsch ihre Gedanken zum Thema ausbreiteten: „Die Ostdeutschen und die Demokratie“ - ein Reizthema. Die Debattenlage, sagte Löffler gleich zu Beginn, sei „mit großen Pflastersteinen belegt, die sich gut im verbalen Affekt auf den jeweiligen Gegner schmeißen lassen“. Umso mehr war sein Anspruch, die Diskussion mit großer Sach- und Faktenkenntnis zu versachlichen.
So gebe es laut regelmäßigen repräsentativen Umfragen nach den Einstellungen in Sachsen unter anderem das „überraschende Ergebnis, dass die Zufriedenheit in Sachsen mit der Demokratie mit 91Prozent sehr hoch“ sei, mit der Umsetzung der Demokratie jedoch deutlich weniger. Das Verhältnis der Ostdeutschen zur Demokratie sei kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Thema. Und das Erstarken des Extremismus und Populismus sei darüber hinaus nicht nur ein deutsches, sondern europäisches und internationales Problem.
Aus zahlreichen Untersuchungen führte Löffler zentrale Punkte zusammen. Es fehle an Vertrauen, das Misstrauen der Menschen untereinander habe zugenommen - aber nur mit Vertrauen, auch in die Institutionen, funktioniere Demokratie. Gerade die Ostdeutschen vermissten die Möglichkeit zur Teilhabe an demokratischen Prozessen - sie sind immer noch in vielen Bereichen unterrepräsentiert.
Die ostdeutsche Gesellschaft, konstatierte Löffler, habe „einen harten Wandel von einer geschlossenen Gesellschaft in eine offene erleben und verkraften müssen“. Sie sei „distanzierter mit Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation umgegangen“ - sich zu organisieren und zu engagieren, sei aber wichtig in einer Demokratie. Zudem weise das Land „längerfristig strukturelle Defizite“ auf, unerfüllte Erwartungen führten zur Suche nach „Sündenböcken, nicht selten Ausländer, ,die da oben’ oder der Staat“. Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung stünden die ostdeutschen Länder „trotz eines sehr erfolgreichen Aufholprozesses weiterhin noch relativ strukturschwach da - das ist keine gute Zukunftsperspektive“.
Im Fazit indes stellte Dr. Löffler fest, dass auch in den ostdeutschen Ländern der Rechtsstaat funktioniere, die Gesellschaft „im Kern intakt“ sei. Dennoch gebe es Unzufriedenheit, Verlustängste, Skepsis. Man brauche einen Konsens und breites Engagement zur Stärkung der Demokratie, klare Debatten ohne Umschweife, die „ohne moralische Vorverurteilungen nach rechts wie links“ an belastbaren Zukunftslösungen arbeiteten, und mehr ostdeutsche Selbstorganisation - ohne sie „wird der ostdeutsche Einfluss in Gesamtdeutschland nicht wachsen“.
Einen stilistisch etwas anderen Ansatz hatte Michael Bartsch, der als Journalist für verschiedene Medien die politische Lage in Sachsen seit Jahren beobachtet. Pointiert, gelegentlich überspitzt und mit feiner Ironie legte er den Finger in die Wunden. „Die Demokratie böte so viele Chancen“, sagte er, „wenn man sie nur praktizieren könnte.“ Dazu gehöre auch Kommunikation zur Entscheidungsfindung, aber das brauche „die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik“, und da sehe er eher Unfähigkeit. Man brauche das Weiterdenken, „aber heute weiß ja jeder alles besser“. Die Diffamierung habe die Beschäftigung miteinander ersetzt.
Eine gute Demokratie wäre „ein Zusammenspiel aus Volkswillen und Expertokratie“. Und es sei wichtig, sich zu engagieren, nahm er auch einen Löffler-Gedanken auf. „Ich habe großen Respekt für alle, die in der Politik den Mut haben, sich zu stellen.“ Das Hauptproblem heutzutage seien Gleichgültigkeit und Apathie.
Dafür sah er durchaus Gründe. Zum Beispiel die Überforderung in einer immer komplexer werdenden Welt; so entstehe die Sehnsucht nach etwas Überschaubarem, das sei aber auch immer eine hermetisch abgeriegelte Welt. Daraus ableiten könne man „die Wahl einer Steinzeit-Partei wie der AfD“. Und er ging auch anders zurück - zu den ersten freien Wahlen 1990 in der DDR. Da habe das Bündnis 90 gerade mal 2,9 Prozent bekommen - „das war ein Arschtritt für die, die sich in der DDR für Veränderung engagiert hatten“. Und es kam der „Beitritt zu einem Staat, der ökonomisch florierte, aber sich in einer Wertekrise befand“. Erkenntnis also: Engagement lohnt sich nicht? Nein, schloss Bartsch: „Machen ist immer besser als gar nichts zu tun.“
Pfarrer Beyer hatte eingangs daran erinnert, dass in der DDR gerade die Kirche oft der einzige Ort gewesen sei, „wo Demokratie wenigstens in Ansätzen gelebt wurde“. Die Vorstellung von Demokratie sei indes im Osten „auch ein bisschen verklärt gewesen“.
Für die musikalische Begleitung hatte Christoph Werneburg am Flügel zur Einstimmung „geheimnisvolle Schranken“ gewählt: „Les bàricades mistérieuses“ von François Couperin. Den Abschluss bildete eine der „Gymnopédies“ von Erik Satie, was mit großer Ruhe einen Kontrapunkt zu setzen suchte nach der doch etwas aufgeheizten Stimmung.
Am Schluss hatte Pfarrer Beyer angesichts der nach zwei ausführlichen Vorträgen fortgeschrittenen Stunde eine kurze Diskussionsrunde angeregt. Das war ein frommer Wunsch - er ging zwar in Erfüllung, ließ aber auch Unzufriedenheit zurück. Die soll nun noch einmal aufgearbeitet werden. Der Gesprächsbedarf war groß an dem Abend, und die Zeit war fortgeschritten. Deshalb gibt es am 2. Februar um 19.30 Uhr im Gemeindesaal das Angebot einer Fortsetzung mit den beiden Referenten. Ohne lange Vorreden, aber mit Zeit für Diskussion.
Bernd Hempelmann, Fotos: Karla Tolksdorf-Hempelmann
Wer den Vortrag von Dr. Löffler nachlesen möchte, kann das hier tun. Er ist auf dieser Webseite eingestellt: Loeffler-Ostdeutsche_und_Demokratie.pdf